Buch schreiben: Recherche
Wenn es im eigenen Roman nicht gerade um Mystery oder Science-Fiction geht, bringt die Verankerung des Plots in der Realität eine Reihe von Vorteilen. Die Geschichte wird für den Leser glaubhafter, weil nachprüfbare Fakten sie begleiten, auch wenn das nur den Rahmen betrifft. Der Autor kann auf Details zurückgreifen, die er sonst mühsam erfinden müsste wie bspw. die Beschreibung von Orten oder Strecken.
Beispiel aus dem Buch: Steves Loft, auf dessen Dach er im Jahr 1988 zunächst das riesige Billboard betrachtet, um dann mit einem Blick runter auf die Halsted Street abzuschätzen, wie lange die Schlange vor „Jim’s“ ist, wurde tatsächlich bald darauf abgerissen. Jim’s Wurstbraterei ebenfalls, aber die hat dann ein paar Blocks weiter östlich wieder aufgemacht. Es gibt sie heute noch.
Dass das Gebäude abgerissen wurde, ist weniger wichtig, als dass der Abriss schon beschlossen war, während Steve und Linda darin wohnten. Das schafft einen zeitlichen Bezug, erhöht den Druck auf beide und birgt deshalb dramatisches Potenzial für die Geschichte insgesamt. Den Abriss zu erfinden, wäre für den Autor deutlich mehr Aufwand und wird außerdem von dem Risiko begleitet, dass ein Leser bestimmte Details besser weiß. Zum Beispiel, wenn eine beschriebene Straße gar nicht existiert, oder weil historische Fakten, auf die sich der Autor bezieht, falsch sind.
Der tatsächliche Abriss hat insofern eine Relevanz, als die Geschichte vor mehreren Jahrzehnten spielt. Jeder Leser kann sofort mit Google Street View prüfen, wie die Halsted Street South aktuell aussieht und ob die Ausweitung der University of Illinois at Chicago dort heute in Form ihrer Gebäude zu sehen ist. Tut es. Wenn das nicht so wäre, würde die Glaubwürdigkeit der historischen und sozialen Einordnung verloren gehen. Das wäre umso bedauerlicher, als später so abgefahrene Leute wie die „Snake Handler“ auftreten, die es tatsächlich gibt. Schon jetzt haben mich mehrere Leser gefragt, ob die real oder erfunden sind. Wenn am Anfang die historischen Tatsachen nicht stimmen, werden weiter hinten im Buch die Zweifel eher größer.
Was ich damit sagen will: Eine glaubhafte Geschichte erfordert eine saubere Recherche. Das Internet hat da vieles leichter gemacht. Es eröffnet ganz neue Dimensionen, mit denen ein Autor wunderbar arbeiten kann. In die meisten Straßen der westlichen Welt lässt sich mit Google Street View eintauchen, als stände man persönlich auf dem Mittelstreifen. Mit Google Earth kann ich darüber fliegen, und auf YouTube finde ich oft weitere Details.
Vor und während der Schreibphase des Romans habe ich unzählige verschiedene, jeweils spezielle Fragestellungen recherchiert – meist mit großem Vergnügen und immer mit dem spontanen Drang, tiefer in diese Themen einzudringen, als es für die eigentliche Geschichte notwendig war.
Recherche beim Schreiben hatte für mich zwei Richtungen. Entweder habe ich etwas gesucht, oder ich wollte einen Umstand auf Richtigkeit und Plausibilität abklopfen.
In dem auf dem Dachboden gefundenen Exposé endete Steves Reise an einem kleinen, eher touristischen Badeort in South Carolina. Die Geschichte, wie sie im Buch steht, stellte aber ein paar eindeutige Anforderungen. Der Zielort musste über einen Tiefwasserhafen oder wenigstens über ein Hafenbecken verfügen, das eine Mindesttiefe hat. Außerdem sollte es dort eine Universität oder andere hochschulähnliche Ausbildungsstätten geben. Alles in allem war ein Ziel gefragt, wo der Leser nicht sofort denkt, um Himmels Willen, warum gerade da, und der Autor weiß keine Antwort. Irgendwie hätte der Badeort schon passend gemacht werden können, aber es gab keine Hochschulen und erst recht keinen vernünftigen Hafen. Im Angebot waren ausschließlich Touristen, Rentner und Spaßboote. Nicht gut.
An diesem Punkt kam die Recherche ins Spiel. Da die Himmelsrichtung von Steves Reise gegeben war, musste ein Ort an der südöstlichen Atlantikküste der USA gefunden werden, also South Carolina oder Georgia. Was Florida angeht, hätte seine Reiseroute von vornherein anders ausgesehen.
Wer sich diese Küsten im Detail anschaut, sieht eine zerklüftete Struktur aus vielen einzelnen Sumpfinseln. Die meisten davon sind unbewohnt, auf einigen stehen Ferienanlagen oder Hotels. An der nördlichen Ecke, kurz vor North Carolina, kommen Sandstrände, die fast immer gepaart sind mit dichter Bebauung. Häfen, die für mehr taugen als Sportboote: Fehlanzeige. Nun ist diese Küste hochgradig hurrikan-gefährdet, und im Hinterland gibt es nichts, wofür ein richtiger Hafen lohnt. Der einzige Hafen ist dank einer Flussmündung ein sicherer Naturhafen. Und als der Einzige weit und breit gehört er zu den wichtigsten der USA: Charleston, South Carolina. Zugegeben, um hier zu landen, hätte bei der Recherche wohl der alte Dierke Schulatlas gereicht, aber spätestens an den Details wäre er gescheitert.
Also wurde Charleston der neue Endpunkt von Steves Reise. Das erwies sich auch in anderen Aspekten als Glücksfall. Charleston hatte 1988 eine überschaubare Einwohnerzahl (auch das lässt sich unkompliziert recherchieren). Die Stadt spielt in der Geschichte der USA eine wichtige Rolle (positiv wie negativ), verfügt über ein traumhaft schönes historisches Stadtbild und eine autorenfreundliche Infrastruktur, die vom Busbahnhof bis zum Nachtclub nichts auslässt.
Das Sahnehäubchen zeigte sich in Form des Charleston Navy Yards, einer riesigen Werft und Trockendockanlage, ursprünglich im Besitz der amerikanischen Marine. Falls jemand das Buch erst lesen will, möchte ich nicht zu viel erzählen. Aber diese Einrichtung, die sich über mehrere Kilometer entlang des Cooper River zieht, war ideal für meine Geschichte. Man könnte dort ganze Serien von Büchern platzieren und die Verfilmung gleich dazu. Für die Recherche gab es im Fall des Navy Yards über das gewohnt gute Material von allen Google Diensten hinaus jede Menge Archivunterlagen in digitaler Form. Außerdem Webseiten historischer Organisationen, von der City of Charleston bis hin zum Militär.
Gehen wir vom Großen ins Kleine und von der Suche zur Überprüfung. Gesetze, Vorschriften und regionale Gebräuche sind ein Thema, bei dem schon im Alltag genügend Unwissen und daraus resultierende Fragen auftauchen. Das lässt sich steigern, wenn es um fremde Länder und lang zurückliegende Zeiträume geht.
Alle, die mal in den USA waren, kennen die personalisierten Nummernschilder, sogenannte „Vanity Plates“ wie zum Beispiel I LV BEER (an einem Wagen aus Wisconsin, America’s Dairyland). Im Buch fährt der Chevrolet-Händler John Ford eine Corvette mit der Nummer JFORD 1, zum einen, weil er so heißt, aber auch, um damit den lokalen Ford- Händler ein bisschen aufzuziehen. Es war nicht schwer herauszufinden, dass es bereits in den 80er Jahren die Vanity Plates in South Carolina gab und die genannte Kombination aus Buchstaben und Zahlen den Vorschriften entsprach. Schwieriger wurde es bei der Frage, ob man ein bestimmtes Nummernschild von einem Wagen an einen anderen wechseln darf, erst recht, wenn verschiedene US-Bundesstaaten ins Spiel kommen.
Nun ist dies hier kein Lehrgang, wie man recherchiert, sondern mein Hinweis, dass Recherche ein wichtiger Bestandteil glaubhafter Geschichten ist. Trotzdem die Anmerkung: Auch diese Frage konnte in Kooperation von Wikipedia, dem amerikanischen Automobilclub AAA und diversen Webseiten, die sich mit dem Import von Autos in die USA beschäftigen, befriedigend beantwortet werden.
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