Schlagwortarchiv für: Exposé

Buchprojekt: Go Your Own Way – Teil 2

Das Exposé stellt einen elementaren Bestandteil von einem Buchprojekt dar. Kein Mensch und erst Recht kein Agent oder Verleger liest das Buch, um einen Eindruck zu bekommen, um was es geht. Ein vollständiges Exposé (im Gegensatz zum Kurzexposé) enthält eine ausführliche und eine kurze Inhaltsangabe (den sogenannten „Pitch“), eine Kurzbiografie des Autors inklusive Foto, Angaben zum Regionalbezug, Genre und zur Zielgruppe. Je nachdem, für wen das Exposé gedacht ist, auch das Coverfoto und den Klappentext. Bei den Agenturen lässt man Cover und Klappentext tunlichst weg, weil das üblicherweise vom Verlag festgelegt wird. Dafür müssen hier zusätzlich der Arbeitstitel, Angaben über den Stand vom Buchprojekt und voraussichtliche Länge des Manuskripts hinein, außerdem ein paar Sätze zum literarischen Umfeld, also zu vergleichbaren Büchern bzw. Autoren mit ähnlichen Themen.

Das Exposé ist nach dem Anschreiben das erste, was ein Literaturagent liest. Es ist die Visitenkarte von Buch und Autor, und wenn hier beim Leser Zweifel aufkommen, hat man schon verloren. Im Übrigen bieten die Agenturen das Buch mit Hilfe dieses Exposés den Verlagen an. Deshalb ist es wichtig, beim Verfassen jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Für das Exposé von Chicago-Chevy-Charleston habe ich mir mehrere Tage Zeit genommen und jede Fassung immer wieder mit einer Nacht Abstand gelesen und verbessert.

Ist es mit einem Verlag nichts geworden, mausert sich das Exposé erst recht zum ständigen Begleiter. Die vollständige Fassung oder Teile davon braucht man bei einem Buchprojekt ständig, nämlich für sämtliche Verkaufsplattformen, für Werbung im Internet oder auf Flyern, für die Einreichung zu Wettbewerben und vieles mehr.

Die Leseprobe ist das einfachste. Das Manuskript ist die Grundlage dafür und muss lediglich auf die gewünschte Länge gekürzt werden. Diese bewegt sich üblicherweise zwischen zehn und 50 Seiten. In Einzelfällen werden zwei Kapitel oder das komplette Manuskript (so weit vorhanden) angefragt. Ich habe immer die ersten beiden Kapitel als Leseprobe beigelegt, weil das den maximal 30 Seiten entsprach, die die von mir ausgewählten Empfänger haben wollten. Den Wunsch nach „zehn Seiten maximal“ habe ich ignoriert, weil jeder jederzeit aufhören kann zu lesen, wenn es ihm reicht.

Von den neun Agenturen auf meiner Liste habe ich fünf angeschrieben. Nicht gleichzeitig, sondern maximal zwei auf einmal, um – aus heutiger Sicht eine größenwahnsinnige Annahme – nicht mit zu vielen parallel verhandeln zu müssen. Das Feedback war niederschmetternd – weil nicht vorhanden. Ich bekam eine einzige Eingangsbestätigung von einem Auto-Responder.

Ich hatte auch die Agentin angeschrieben, bei der die Sachbuchautorin unter meinen Testlesern ihren Vertrag hat. Diese Testleserin sagte mir aber vorab, die Agentin sei mittlerweile mehr an ihrem Hund interessiert als an neuen Autoren. Insofern wäre das weniger eine Empfehlung als ein Hinweis. Ich dürfe mich jedenfalls gerne auf sie beziehen. Das machte ich und bekam erstaunlicherweise innerhalb Stunden eine Antwort. Die Aussage der Agentin war, sie würde sich meine Materialien im Lauf des kommenden Wochenendes anschauen. Das war das Erste und das Letzte, was ich aus dieser Richtung hörte. Auf ein freundliches Nachfassen mehrere Wochen später kam keine weitere Reaktion.

Ich will nicht ausschließen, dass diejenigen, die in den Agenturen meinen Text in die Hand genommen haben (wenn überhaupt), davon so erschreckt waren, dass ihnen die Worte fehlten. Es würde mich aber wundern. Dennoch, selbst dann ist das ein merkwürdiges Verhalten. Diese Branche hat offensichtlich in Sachen Etikette etwas andere Gebräuche als die sonstige Wirtschaft. Unverständlich, warum man für das Sichten eines Manuskripts acht bis zwölf Wochen benötigt, und noch unverständlicher, warum es offenbar eine Zumutung ist, einen Textbaustein als Absage zu schicken. Und dann verlangen einige noch die Auskunft, wo man sein Manuskript parallel angeboten hat. Das ist wie eine Firma, die fragt, auf welche offenen Stellen ich mich sonst beworben habe. Dafür, dass dies eine Kulturbranche ist, fehlt es im Umgang genau daran: an Kultur.

Im Lauf dieser Wochen, in denen ich auf Antworten wartete, die nicht kamen, verdichtete sich mein Entschluss, bei meinem Buchprojekt auf Literaturagenten und Verlage zu verzichten. Parallel hatte ich angefangen, mich in die Materie von Herstellung und Vermarktung von Büchern im Eigenverlag zu beschäftigen. Dabei tauchte eine Reihe von spannenden Details auf, die ich als eine neue Herausforderung sah.

Und dann stieß ich auf einen ausführlichen Blogbeitrag von Hugh Howey, einem amerikanischen Autor, der mit seiner Wool Trilogie im Selbstverlag ein Millionenpublikum erreichte. Diese Bücher sind mittlerweile als Übersetzung in Verlagsausgaben in circa 17 Ländern erhältlich, aber das amerikanische Original erschien 2012 bei Amazon KDP.

Howeys Beitrag (Writing Insights Part Four: Publishing Your Book) ist eine flammende Fürsprache zugunsten des Selfpublishing, was nicht wundert, wenn man Millionen Exemplare auf diesem Weg verkauft hat. Dennoch sind viele seine Pros und Cons Fakten, die nicht von der Hand zu weisen sind.

Das alles habe ich eine Zeit lang bei mir sacken lassen. Dann stand die Entscheidung: Ich mache das selbst.

Nächster Beitrag: Buchtitel

Letzter Beitrag: Go Your Own Way – Teil 1

Zur Übersicht aller Blog-Beiträge

Photo by Harald Stuckmann

Go Your Own Way – Teil 1

Von vornherein gab es einen Zwiespalt in mir. Wenn man sich sein ganzes Berufsleben mit wirtschaftlichen Dingen beschäftigt hat, wird das Prinzip der Arbeitsteilung zur inneren Überzeugung. Lass Spezialisten ran, wo du selbst keine Ahnung hast. Die Inspektion am Auto machen auch die wenigsten ohne Werkstatt.

Andererseits sehe ich es als eine persönliche Herausforderung, Projekte alleine zu Ende zu bringen und die Systematiken durchblicken zu wollen, die hinter den Dingen stehen. Gäbe es nicht die Möglichkeiten des Selfpublishing, hätte ich mein Buchprojekt wahrscheinlich nicht gestartet. Heißt, ich habe von Anfang an damit gerechnet, das Ding gegebenenfalls selbst durchzuziehen.

Nun vergibt man sich ja nichts bei dem Versuch, einen Verlag bzw. einen Literaturagenten für das eigene Manuskript zu interessieren. Auf dem langen Weg zu einem Vertrag ist ein Aussteigen jederzeit möglich, und wie hier früher beschrieben, bietet eine Verlagsveröffentlichung so viele Vorteile, dass es fahrlässig wäre, nicht wenigstens den Versuch zu machen.

Diese Überlegungen begleiten einen von Anfang an. Sie werden umso deutlicher, je mehr es dem Ende des Schreibens zugeht. Irgendwann schaut man der potenziell frustrierenden Angelegenheit ins Auge und beginnt mit den konkreten Vorbereitungen.

Für den Kontakt mit Agenturen oder Verlagen braucht es nicht viele Unterlagen. Diese sollten aber so gelungen wie möglich sein, um aus der Menge der Einsendungen herauszustechen, die täglich beim Empfänger eintreffen. Ein Vorteil ergibt sich daraus, dass das Exposé für die unterschiedlichsten Zwecke sowieso benötigt wird.

Drei Dokumente sind erforderlich:

  • Anschreiben
  • Exposé
  • Leseprobe

Beim Anschreiben ist das Schwierigste die Frage, wer überhaupt angeschrieben werden soll. Es gibt jede Menge Verzeichnisse von Literaturagenturen, und die Anzahl der dort genannten Adressen liegt in der Größenordnung von über hundert. Das Handbuch für Autorinnen und Autoren (Uschtrin Verlag) ist da hilfreich. Zu jeder Agentur nennt es relevante Details wie die vertretenen Genres, die Ansprechpartner, die Verlage, mit denen zusammengearbeitet wird, und einiges mehr.

Auf dieser Grundlage schaute ich mir anschließend die Webseiten der ausgewählten Agenturen an. Dort bekommt man schnell ein Gefühl und die Fakten, ob eine Agentur zum Manuskript und einem selbst passen könnte. Hier finden sich die Einzelheiten für eine Einreichung: per Mail oder auf dem Postweg, Länge der Textprobe, Wartefrist und die Frage nach Paralleleinsendungen bei anderen Agenturen. Alle, die mir interessant erschienen, habe ich mit diesen Details in eine Excel-Liste gepackt. Wie immer gibt es ein paar Exoten, die keine PDFs nehmen, sondern die Unterlagen als Word-Datei wollen. Eine hatte einen Fragebogen auf der Webseite, der die Grenzen des Datenschutzes sprengte. Solche Agenturen habe ich für mich als unbrauchbar klassifiziert. Unter dem Strich standen schließlich neun Literaturagenturen, die in Frage kamen.

Das Anschreiben kann kurz gehalten werden. Wichtig ist eine namentliche Ansprache. Wenn in den „Kontakten“ der Webseite kein Ansprechpartner genannt wird, ist es in jedem Fall besser, den gesetzlichen Vertreter aus dem „Impressum“ zu nehmen als das wenig verbindliche „Damen und Herren“. Ein Hinweis, warum diese Agentur als die Passende erscheint, macht Sinn. Chicago-Chevy-Charleston hat seinen Ursprung in einem Filmexposé, und das Buch hat nach wie vor eine starke Bildsprache. Für eine Agentur, die die Option einer Filmauswertung explizit auf ihrer Webseite nennt, ist das beispielsweise ein wichtiger Anhaltspunkt. Was Agenturen und Verlage ebenfalls mit Wohlwollen sehen, ist die Bereitschaft zu crossmedialen Aktivitäten für die Buchpromotion. Wer sein Autorendasein mit Social Media Aktivitäten oder einer eigenen Webseite begleitet, sollte das erwähnen. Wenn das Anschreiben einen persönlichen und individuellen Charakter hat und eine klare Aussage mit sich bringt, sind die eigenen Karten jedenfalls besser als mit einer offensichtlichen Massenaussendung.

Nächster Beitrag: Go Your Own Way – Teil 2

Letzter Beitrag: Die Literaturagenturen und ihre Rolle

Zur Übersicht aller Blog-Beiträge

Photo by Kimi Lee on Unsplash

Die Literaturagenturen und ihre Rolle

Spätestens jetzt müssen wir über die Literaturagenturen bzw. die Literaturagenten sprechen. Die sind eine Art Mittler zwischen Autoren und Verlagen, wobei sie zunächst die Interessen der Autoren vertreten. Diese Dienstleistung lassen sie sich mit 10–15% der von den Verlagen bezahlten Autorentantiemen vergüten. Die Agenten handeln die Buchverträge aus und prüfen die Tantiemenzahlungen vor Weitergabe an die Autoren. Je nachdem kümmern sie sich um Zweitverwertungen wie den Verkauf von Filmrechten und ggf. um fremdsprachige Buchausgaben, wenn diese Rechte nicht an den Verlag gegangen sind. Die Autoren haben damit einen professionellen Partner, der den Verlagen auf Augenhöhe begegnet und ihnen eine Menge bürokratische Vorgänge abnimmt. Die Verlage wiederum haben so in fast allen Belangen einen Ansprechpartner, den sie kennen und der damit auch ihnen die Arbeit erleichtert bzw. den Aufwand reduziert.

Die Literaturagenturen und Agenten sind außerdem intensiv in die inhaltliche und kreative Arbeit eingebunden. Die Verlage nehmen lieber von den Agenten Buchvorschläge entgegen als von den Autoren, weil damit klar ist, dass die Agentur diesen Autor vertreten würde. Und das macht diese nur, wenn sie von ihm bzw. dem Manuskript überzeugt ist. Die Akquisition von neuen Autoren spielt sich also weitgehend auf einer vorgelagerten Stufe ab. Das ist für die Einreichung von Manuskripten wichtig, weil sich damit neue Ansprechpartner ergeben. Formal sind die meisten Verlage laut ihren Webseiten immer noch bereit, unter gewissen Voraussetzungen Einreichungen zu bearbeiten, in der Praxis macht es aber mehr Sinn, sich gleich an eine der vielen Literaturagenturen zu wenden.

Die Angelegenheit wird damit keineswegs einfacher. Auch die Literaturagenten kümmern sich hauptsächlich um ihre Bestandsautoren. Sie haben weder Zeit noch Lust, sich intensiv mit den Bergen von unverlangten Manuskripten auseinanderzusetzen, die täglich in ihren Posteingang hereinschwappen. Neue Autoren finden sie eher durch Netzwerken, durch aufmerksames Verfolgen der Literaturszene und bei öffentlichen Lesungen. Im Übrigen bewegen sich die Informationen und Bedingungen zu unverlangten Einsendungen auf demselben Level wie bei den Verlagen – inklusive der bis zu drei Monate Wartezeit, innerhalb derer theoretisch eine positive Nachricht erfolgen könnte.

Böse Zungen behaupten, diese drei Monate seien den Abständen geschuldet, in denen die verlags- oder agentureigenen Praktikanten sich der aufgelaufenen Stapel von Einreichungen annehmen und diese im Schnellverfahren abarbeiten müssen. Da bleiben wenige Minuten für jedes Exposé oder Manuskript. In denen wird entschieden, ob eine Arbeit von Monaten literaturpreisverdächtig erscheint oder gleich im Papierkorb landet. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung ist nicht geklärt, aber wenn es stimmt, wunderte es mich nicht.

Nächster Beitrag: Go Your Own Way, Teil 1

Letzter Beitrag: Der Buchverlag, das unbekannte Wesen

Zur Übersicht aller Blog-Beiträge

Photo by Curtis Potvin on Unsplash

Der Anfang: Ein Exposé taucht auf

Eines Tages im Herbst 2019 stand ich auf dem Dachboden und wühlte in einer Archivkiste nach alten Unterlagen. Mit dem ungeöffneten Karton war ich bereits mehrere Male umgezogen, und ich hatte nur noch vage Vorstellungen über den Inhalt. Das Gefühl, auf einer Schatzsuche zu sein, kennt wohl jeder: Die Goldstücke, die man zu finden hofft, gibt es nicht. Dafür tauchen Dinge auf, die einem komplett aus dem Gedächtnis gefallen sind und die man nie mehr vermisst hätte, selbst wenn das Haus abgebrannt wäre.

So auch hier. Jede Menge altes Papier: Ausgaben der twen und des Spiegel, Autozeitschriften aus den 60ern in Hochglanz, dazwischen Briefe mit 20 Pfennig Marken, Gratulationen zur Konfirmation und Hotelprospekte. Aber dann kam ein Stapel Film-Exposés zum Vorschein, und der saugte mich schlagartig zurück in die 80er Jahre.

Damals arbeitete ich in München für eine Filmproduktion, die im Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen vor allem Dokumentationen, Features und Porträts von mehr oder weniger bekannten Kulturschaffenden drehte. Die Produktionsfirma gehörte dem leider viel zu früh gestorbenen Filmemacher Christian Bauer, der ursprünglich Gymnasiallehrer für Englisch war und unter anderem Amerikanistik studiert hatte. Dieses Faible für Land, Leute, Sprache und Kultur der USA prägte auch sein filmisches Schaffen. Mein Platz als Produktionsleiter war eigentlich der Schreibtisch in München. Aber wie so oft beim Film und gerade bei kleineren Firmen arbeitet man auch auf Nebengleisen, und ich ergriff jede sich bietende Gelegenheit, bei Dreharbeiten in den USA dabei zu sein.

Wir drehten so ziemlich überall in den Staaten. An der Ostküste, der Westküste, den kompletten Mississippi runter von Minnesota bis in den Golf von Mexiko. Aber eine Stadt holte uns immer wieder ein: Chicago. Das hatte zwei Gründe. Zum einen war eines der ersten großen Projekte ein 90 Minuten Porträt dieser Stadt. Dabei haben wir die „Windy City“ nicht nur intensiv kennen und lieben gelernt, sondern Ideen für eine ganze Reihe von weiteren Filmen gefunden: den Chicago-Blues, die Schlachthöfe in Upton Sinclairs legendärem Buch Der Dschungel, Al Capone und so manches mehr.

Der zweite Grund hieß Allen. Der war ein genialer Kameramann und ein formidabler Kenner seiner Heimatstadt Chicago. Mit einer Empfehlung des Film Centers am Art Institute of Chicago stellte er sich Christian Bauer vor. Allen verstand sofort, welche Form der Bildsprache von ihm gewünscht wurde und entwickelte sich bereits im Lauf des ersten Projekts zu einem unersetzlichen Teil der Crew. Er blieb das viele Jahre lang.

Allen lebte mit seiner Freundin in South Chicago an der Halsted Street in einem Loft mit gigantischen Ausmaßen. Hier fand alles statt, was Allens Leben und das seiner Partnerin definierte. Hier wurde gewohnt, aber vor allem gearbeitet. Hier war Studio, Schneideraum, Kino und Konferenzsaal, Kantine und Lager.

Allen arbeitete als Kameramann, war aber selbst Filmkünstler. Große Teile seiner Gage wanderten in eigene Projekte, die so gut wie nie irgendwelchen kommerziellen Aspekten folgten. Diese Wohn- und Arbeitsstätte hätte er sich nicht leisten können, wäre nicht das Gebäude zum Abriss freigegeben gewesen. Der verzögerte sich immer wieder, aber irgendwann würde es so weit sein.

Bemerkenswert, weil unübersehbar, war Allens Auto, ein 64er Chevrolet Bel Air. Dieses Fahrzeug flößte schon von außen Furcht ein. Es war verbeult mit großen grau gespachtelten Flächen. Der Lack zeigte sich in einem mäandernden stumpfen Blaugrau, und das Ausstellfenster auf der Beifahrerseite war mit Gaffertape abgeklebt, weil es bei einem versuchten Einbruch abhandengekommen war. Spätestens im Inneren des Wagens kam einem der Gedanke, hier sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Sitze zerschlissen und durchhängend, jede Feder war einzeln im Rücken zu spüren. Die Lenkradschaltung ausgelutscht mit einem Hebel, der im parkinsonschen Endstadium zitterte. Am beängstigenden war aber der Dachhimmel, der sich in großflächigen Fetzen gelöst hatte und den Passagieren teilweise direkt vor den Augen hing. Dieses Gefährt nutzten wir als Produktionsfahrzeug für diverse Filme in Chicago.

Allen war oft ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Andererseits konnte er extrem witzig und unterhaltend sein, wobei er nicht unbedingt erkennen ließ, welche Geschichten er gerade erfand oder was wirklich den Tatsachen entsprach. Bis heute ist nicht geklärt, ob er dieses Auto von seinem Großvater geerbt oder für 100 Dollar an einer Straßenecke erstanden hatte.

Warum ich das alles erzähle? Nun, weil das der reale Bestandteil des einzigen Exposés mit einer ansonsten erfundenen Geschichte ist. Alle anderen in der Kiste wiedergefundenen Exposés behandelten dokumentarische Themen.

Ich saß zwischen all diesen staubigen Kisten und las, wie sich Steve, Kameramann aus Chicago, nach einem Streit mit seiner Freundin Linda spontan in Richtung Süden aufmacht. Dort will er den alten von seinem Opa geerbten Chevy Bel Air in der Nähe eben dieses Großvaters beerdigen. Auf der Fahrt nach South Carolina passieren alle möglichen Dinge. Steve trifft die merkwürdigsten Leute und – logisch – auch eine Frau, die vieles noch komplizierter macht.

Das Exposé hatte einen Umfang von 22 computergeschriebenen Seiten, und mein Rechner datierte es auf 1990. Es war also knapp 30 Jahre alt. Trotzdem erinnerte ich mich in diesem Moment nicht an den Plot. Klar, die Anleihen bei Allen und seiner persönlichen Situation waren sofort erkennbar und eindeutig. Außerdem endete die Geschichte in Murrells Inlet, South Carolina, wo wir ebenfalls im Jahr 1990 ein Porträt von Mickey Spillane gedreht hatten – dem großen amerikanischen Krimi-Autor und Erfinder von „Mike Hammer“.

Tage nach dem Dachbodenfund kam mir die Vermutung, dass das Ganze eine schnell heruntergeschriebene Rohfassung war. Es fehlten Übergänge, ein paar Szenen waren mit dem Vermerk „Ausarbeiten!“ versehen. Wahrscheinlich hatte ich den Text als Übung oder aus Spaß an der Freude geschrieben. Irgendwann verschwand das Exposé bzw. die Rohfassung davon erst in einem Stapel unerledigter Dinge und dann in der Archivkiste, wo sich ein Mantel des Vergessens darüberlegte.

Erfreulicherweise endete es nicht im Papierkorb! Denn dieser Fund setzte etwas in Bewegung. 30 vergangene Jahre lassen eine Distanz entstehen, die den Blick auf das Wesentliche schärft, und sie erhöhen deutlich die Objektivität gegenüber dem eigenen damaligen Schaffen. Die Geschichte zeigte Qualitäten, und die Frage nach der Aktualität stellt sich nicht, wenn Personen und Abläufe in dem gegebenen zeitlichen Umfeld stimmig herüberkommen.

In dem Exposé gab es Szenen und Abschnitte, die nicht überzeugten. Sie waren trivial oder brachten die Geschichte keinen Meter voran. Aber der Plot hatte einen Spannungsbogen. Er transportierte Witziges, Nachdenkliches und Emotionen, und die Entwicklung der Geschehnisse hatte eine geschlossene Logik. Mich frustrieren Bücher, in denen der Schluss mit der Brechstange des Zufalls und des Unglaublichen passend geschrieben wurde.

Und so wanderte das Exposé wieder vom Dachboden in einen Stapel Papier auf meinem Schreibtisch.

Auf der Titelseite des Exposés war ein Foto des Chevys zu sehen, des Wagens, der eine „tragende“ Rolle in der Geschichte spielt. Die Kiste zog mich jedes Mal in Bann, wenn ich auf dem Schreibtisch – meistens suchend – unterwegs war. Ich ertappte mich häufig, ein paar Seiten erneut zu lesen, und irgendwann fing ich an, Notizen an den Rand der Blätter zu schreiben. Es dauerte nicht mehr lang, bis ich die erste Szene in einer ausführlichen Fassung neu anlegte. Ohne dass es mir bewusst wurde, hatte ich damit den Anfang eines Buchprojekts gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings noch weit entfernt von der Entscheidung, ein Buch schreiben zu wollen.

Das Ausformulieren von Szenen machte mir Freude, den Figuren Wörter und Sätze in den Mund legen zu können genauso. Aber das alles war mehr ein Vortasten, ein Ausprobieren, um zu sehen, ob das Geschriebene auch noch Tage später meine Zustimmung finden würde.

Der letzte Satz verrät eine meiner Vorgehensweisen: Ich drucke Texte auf Papier aus, um Korrekturen, Ergänzungen und Anmerkungen zwischen die Zeilen, an den Rand und gerne auch auf die Rückseite des Blatts schreiben zu können.

Irgendwann war es so weit. Zwei Kapitel hatte ich in einer ersten neuen Rohfassung geschrieben, und sie erfüllten meinen eigenen Anspruch. Der nächste entscheidende Punkt kam, als ich beschloss auszuprobieren, ob ich ein ganzes Buch stemmen könnte. Das habe ich wohlweislich für mich behalten, weil ich ein potenzielles Scheitern nicht ausschloss und dieses lieber mit mir allein ausmachen wollte. Ich sah das Ganze als ein persönliches Experiment.

So wurde aus einem Jahrzehnte alten Exposé auf meinem Schreibtisch das Projekt für einen Roman. In Analogie zu „Ruhe in Frieden“ nannte ich den Arbeitstitel Ruhe im Süden. Ich hatte keinen Druck und dementsprechend keinen Zeitplan. Trotzdem wollte ich das alles ab sofort kontinuierlich wachsen sehen. Schreiben war angesagt!

Nächster Beitrag: Das Schreiben – Ein kreativer Prozess

Zur Übersicht aller Blog-Beiträge