Books on Demand: Neue Erfahrungen – Hardcover-Ausgabe mit Schutzumschlag

Noch bevor ich den letzten Satz meines zweiten Buchs Daisy Montana geschrieben hatte, war mit klar, dass ich zwar erneut versuchen würde, einen Verlag bzw. eine Literaturagentur dafür zu finden, ansonsten aber den Vertrieb dieses Mal ausschließlich über Amazon KDP machen will. Dafür gab es verschiedene Gründe. Einer davon war, dass bspw. BoD (Books on Demand) in den drei Jahren, in denen sie die Taschenbuchausgabe meines ersten Romans verkauften, mir knapp 70 EUR Tantiemen bezahlt haben und die kamen größtenteils ebenfalls von Amazon, die das BoD-Taschenbuch auch vertrieben. BoD tut zwar so, als sei mit ihrer ISBN Nummer die Welt zu allen Buchhandlungen offen, unternimmt aber nicht im Mindesten irgendetwas, um es denselben anzubieten oder – erst Recht nicht – es ihnen schmackhaft zu machen. Über die neuesten Erfahrungen mit Verlagen und Vertrieb demnächst mehr an dieser Stelle.

In Sachen Vertrieb wollte ich also nicht mit mehr BoD ins Boot, aber was die Herstellung von Büchern angeht, war mein Vertrauen durchaus noch intakt. In Daisy Montana war nicht nur extrem viel Recherche und damit Zeit, sondern auch viel Herzblut geflossen. Aus diesem Grund wollte ich für Freunde, Familie und mich eine „Friends & Family Edition“ in überschaubarer Auflage produzieren lassen. Ich entschied mich – wenn schon, denn schon – für die aufwändigste Ausstattung, sprich Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenbindung und Lesebändchen.

Den Buchsatz machte ich wieder mit Affinity Publisher, eine gute Gelegenheit, die vor drei Jahren mit Mühe aufgebauten Fähigkeiten etwas aufzufrischen. Mein Grafiker passte das Cover an und freute sich über das ungewohnte Platzangebot. Dann lud ich beides bei BoD hoch. Weil der Stückpreis bis zu einer Auflage von 24 Exemplaren gleich bleibt, bestellte ich ein einzelnes Exemplar. Ich wollte diese Gelegenheit nutzen, die Qualität zu beurteilen und gegebenenfalls weitere Textfehler auszumerzen, die erfahrungsgemäß immer noch auftauchen. Es dauerte zwei Wochen, bis die Lieferung angekündigt wurde. Kurz darauf kam das Paket.

Das Bild, das sich zeigte, war gespalten. Das Buch selbst war nicht nur einwandfrei, sondern praktisch perfekt. Ganz anders der Schutzumschlag, dessen ins Buchinnere zeigende Falze sich wellten, als seien sie auf Lockenwicklern aufgespannt gewesen (Bild 1, Bild 2). Außerdem fühlte er sich an wie das Butterbrotpapier, in dem in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Eltern ihren Schulkinder die Brotzeit einwickelten. Ein beschichtetes Zeug mit merkwürdiger, irgendwie klitschiger Textur. Uns Kindern war das damals egal, Hauptsache das Brot war lecker belegt. Nun denn, irgendwas war bei BoD halt schief gegangen, das würde sich richten lassen – dachte ich. Wenn das Buch selbst Mängel hätte, wäre das eindeutig die schlimmere Variante.

Ich sprach mit meinem Grafiker und auch mit einem befreundeten Drucker im Ruhestand. Erster vermutete, das Papier sei gegen die Laufrichtung gedruckt worden, letzterer schüttelte nur den Kopf, was er aber häufig macht, wenn er die Preise von heutigen Digitaldruckereien sieht. „Was erwartest du für die paar Mark, die das nur noch kostet. Da kann doch nichts Vernünftiges bei rauskommen.“

Dann begann die Diskussion mit BoD. Dass die ihre Kunden grundsätzlich mit Vornamen und per du ansprechen, geht ja noch an, auch wenn ich das ein bisschen betont kumpelhaft finde. Klingt so, als säßen wir alle in einem Boot, was definitiv nicht stimmt. Wäre interessant, die Reaktion zu sehen, wenn ich dem CEO eine Mail schreiben würde mit „Moin Marko, Kohle is gerade n’büsschen knapp, hat die Rechnung noch’n Jahr Zeit …?“ Da wäre es sicher schnell vorbei mit dem „du“.

Mit den Details will ich nicht langweilen. BoD schob die Idee mit der falschen Druckrichtung von sich und argumentierte, dass das Laminat (also die Beschichtung, die den Butterbrotpapiereffekt erzeugt) etwas Spannung gehabt hätte. Sie würden ein Ersatzexemplar anfertigen lassen. Sie hatten ein Muster angefertigt, wovon sie auch vorab auch ein Bild schickten, das mich nicht wirklich überzeugte. Es wellte sich zwar nicht, sah aber aus wie die Hügel, die wir damals für unsere Märklin-Eisenbahn-Landschaften zu konstruieren versuchten. Was mir tatsächlich vorschwebte, waren Schutzumschläge ähnlich den vielen Bücher in meinem Regal, bei denen diese plan liegen, als würden sie täglich gebügelt (Bild 3).

Ich habe meine Friends & Family Edition dennoch bei BoD bestellt. Die Bücher selbst sind absolut ohne Makel. Die Schutzumschläge lagen etwas planer, dafür zeigten sie deutliche Knicke und Abblätterungen am Rand, so als wären sie reichlich grob behandelt worden (Bild 4, Bild 5). Es war mir egal, weil ich inzwischen eigene Schutzumschläge in einer regionalen Druckerei hatte drucken lassen. Aber glaube niemand, BoD hätte sich darauf eingelassen, die Bücher für einen Nachlass ohne Schutzumschlag zu liefern. Ich grüble heute noch darüber, ob das ein Zeichen von zu viel oder zu wenig Bürokratie ist.

Wie auch immer. Nach aktuellem Stand kann man mit gutem Gewissen gebundene Bücher bei BoD bestellen, wenn man den Schutzumschlag ausschließlich als Schutz und nicht als Teil des Ganzen sieht. Zum Verschenken macht man ihn eben weg.


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Die Entscheidung – Love Between the Pages (Schreibwettbewerb)

In wenigen Tagen, am 20. März 2024, erscheint eine Anthologie von 18 Romancegeschichten mit dem Titel »Love Between the Pages«.

Der Hintergrund dazu ist folgender: Im Juli 2023 lud BoD (Books on Demand) zur Teilnahme an einem Schreibwettbewerb mit dem Titel »Love Between the Pages« ein. Gefragt waren Kurzgeschichten, die (Zitat):

das Thema Buch beinhalten und im Gerne Romance oder Romantasy geschrieben sind. Das heißt, dass dein*e Protagonist*in zum Beispiel in einer Buchhandlung oder Bibliothek arbeitet, Leser*in oder Autor*in ist oder das Thema Buch eine zentrale Rolle spielt.

Bis zum Teilnahmeschluss am 15. September waren über 500 Einsendungen zusammengekommen, aus denen 15 ausgewählt wurden, um im Umfeld von drei »erfolgreichen Autorinnen« in dieser Textsammlung veröffentlicht zu werden. Unter diesen 500+ Autoren (und Autor*innen) war auch ich und habe – wie zu erwarten – keinen Stich gemacht.

Nun ist eine Chance von 3% nicht wirklich überzeugend, zum anderen muss sich die Jury verständlicherweise auch die Frage stellen, in wie weit die Texte zu den vorab feststehenden Geschichten der drei »erfolgreichen Autorinnen« passen. Und ich fürchte, spätestens da sind meine Erfolgsaussichten entgültig auf Null gefallen.

Zugegeben: Als jemand, dem Recherche nicht fremd ist, hätte ich mir mal zumindest die als erste genannte „erfolgreiche Autorin“ D.C. ODESZA genauer anschauen sollen. Auf Amazon steht (Zitat):

Der Name ist das Pseudonym einer jungen, deutschen SPIEGEL- und BILD-Bestseller-Autorin. Ihre Geschichten zeichnen sich durch tiefe Gefühle, sinnliche Momente, tiefbewegenden Handlungen und einem Hauch Spannung und Dunkelheit aus.

Die „Sinnlichen Momente“ wurden in Besprechungen früherer Bücher dieser Autorin in noch ganz andere Regionen geschoben, wo die Sternchen nicht nur zum Gendern benutzt werden. Hmm, wenn ich das gewusst hätte, …

… hätte ich meine Geschichte trotzdem geschrieben?

Definitiv ja. Ganz einfach, weil es ein gutes Thema ist, und ich heute, ein halbes Jahr später, meine Geschichte immer noch mag. Aber ich hätte früher wissen können, dass es das falsche Umfeld ist.

Nur am Rande: Keine gute Figur machte meines Erachtens die Kommunikation von BoD (Books on Demand). Nach Ablauf der Frist für die Einreichung war es nahezu unmöglich, Informationen zum Wettbewerb zu finden. Völlig undurchsichtig blieb, wie die Jury ausgewählt hat. Bei 500+Einsendungen wäre es schon angemessen gewesen, über die 15 „Gewinner“, sorry, „Gewinner*innen“ hinaus die insgesamt ersten 50 mit den höchsten Punktzahlen genannt zu bekommen. Auch wie sich bei den 15 Auserwählten die Bewertungen innerhalb der sechs „Juror*innen“ verteilt haben, bleibt im Dunklen. Im übrigen waren, zumindest den Namen nach, auch 14 der 15 Ausgewählten weiblich.

Egal, hinterher ist man immer klüger. Jetzt zur Sache. Hier meine erfolglose Einreichung zum Wettbewerb „Love Between the Pages“:

Die Entscheidung

Niemand las. Ihr Vater las den Koran, sonst nichts. Ihre Brüder lasen nicht. Nur sie las. Es war ihr Weg gewesen, genügend Deutsch zu lernen, um weiterhin in die Schule zu gehen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abitur. Als Einzige in ihrer Familie und als Erste von allen Vorfahren, die nur noch im Kopf ihres Vaters präsent waren.

Ihre Mutter hatte die Flucht nicht überlebt. Aber selbst wenn, sie hatte nie lesen gelernt.

Aziza stand vor dem Schaufenster eines Reisebüros mit Plakaten, die Ferienhotels an der türkischen Küste zeigten. Sie wusste, welche Lügen sich hinter diesen Bildern verbargen. Ihr einziger Gedanke war: Nie wieder will ich dort hin. Ich war gezwungen, das kennenzulernen und weiß, wie es an anderen Ecken dieser Küste zugeht.

Sie rückte sich das Kopftuch zurecht. Ferienreisen empfand sie als ein fremdes Wort. Warum muss man irgendwo hinfahren, nur weil man Zeit dafür hat?

Sieben Jahre waren vergangen, seitdem die einzige Alternative Deutschland hieß. Ihre kränkelnde Mutter hatte den Verlust ihrer Heimat in Afghanistan nicht verwinden können und war den widrigen Umständen der Flucht nach Europa nicht gewachsen gewesen. Sie wollte nicht nach Deutschland und hatte beschlossen zu sterben.

Ihr Vater arbeitete jetzt als Busfahrer und lobte täglich Allah, diese Möglichkeit bekommen zu haben. In Afghanistan hatte er die Überlandverbindungen des größten regionalen Busunternehmens in Kabul organisiert. Verschiedene Welten. Ihre zwei Brüder waren in Ausbildung und beide gaben einen Teil ihres Verdienstes an den Vater ab. Sie, Aziza, ging aufs Gymnasium und hatte nichts zum Abgeben. Sie kostete nur.

Ihr Schulweg führte mit einem kleinen Schlenker an einer Buchhandlung vorbei, die ihr den täglichen Trost spendete. Sie liebte diesen Umweg, der sie höchstens fünf Minuten kostete, nicht gerechnet die Zeit, die sie die Auslage im Fenster anschaute. Immer wenn sie früh genug dran war, lief sie an der Buchhandlung vorbei und sog die Buchtitel und Bilder im Schaufenster in sich hinein. Es war jedes Mal eine Reise in unbekannte Welten. In die Vergangenheit, in die Zukunft oder in Länder, deren Namen sie höchstens kannte, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie es dort aussah.

Bücher kaufen kam nicht in Frage, in der Bücherei leihen schon. Die Coming of Age Geschichten ihrer Mitschülerinnen hatten irgendwann den Reiz verloren. Sie wollte Literatur. Also fragte sie eine Mitarbeiterin der Bücherei, die selbst ihrer Heimat, dem Iran, vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hatte.

»Fang mit etwas an, wo du zumindest den Hintergrund kennst«, sagte die und empfahl ihr afghanische Schriftsteller wie Atiq Rahimi und Khaled Hosseini.

Mittlerweile hatte sie ihren literarischen Horizont erweitert. Nach Westen mit Autoren wie T. C. Boyle und nach Osten unter anderen mit Haruki Murakami. Sie versank völlig in den imaginären Welten dieser Geschichten. Sie lebte und fühlte mit den Protagonisten und fand Ablenkung und Trost vom eigenen eher eintönigen Alltag und der Traurigkeit, die sie manchmal erfasste. So waren Bücher gleichzeitig Trost und Flucht, Vergnügen und Freude.

Ihre Familie betrachtete sie als Exotin, ihre Mitschüler nannten sie Buchfreak.

Irgendwann hängt bei der Buchhandlung dieser Zettel im Fenster: Ferienaushilfe gesucht! Lieferungen auspacken und Regale auffüllen. Sie hat das noch nie gemacht und sie kennt die Blicke von Leuten, denen sie zum ersten Mal begegnet. Ein Kopftuchmädchen! Und schlimmer: die Arme!

Sie weiß, dass sie dieses Problem verfolgen wird. Warum sich nicht gleich damit konfrontieren lassen? Sie nimmt all ihren Mut zusammen, öffnet die Tür der Buchhandlung und geht hinein.

»Bist du schon 18? Wenn nicht, brauche ich die Unterschrift von deinen Eltern.«

»Ich bin 18. Ich musste ein Jahr Deutsch lernen, bevor ich am Gymnasium weiter machen konnte.«

»Und dein Ausweis sagt das auch? Wenn ich dich einstelle, muss ich den sehen.«

»Ja!«

Sie bekam den Job. Ihrem Vater erzählte sie nichts. Die Gefahr, dass er es ihr verbieten wollte, erschien ihr zu groß. Es waren drei Vormittage die Woche, jeweils ein paar Stunden, und abgesehen davon, dass er selbst arbeitete, hatte er Vertrauen zu ihr. Da sie seiner Meinung nach fast immer lernte, würde sie wohl auch in der Ferien lernen.

Es war wie eine Offenbarung. Tausende von Büchern. Leseexemplare, die sie für ein paar Tage mitnehmen durfte. Belesene Kolleginnen, mit denen sie sich danach über diese Neuerscheinungen austauschen konnte. Sie liebte es. Meistens kam sie früher als vereinbart und blieb auch länger, was ihr scheinbar tadelnde Blicke der Chefin einbrachte. Es war wie ein Wohnzimmer, das sie selbst für sich eingerichtet hatte.

An einem Tag stand sie vor dem Regal mit Kriminalromanen und Thrillern. Überhaupt nicht ihr Ding, aber darauf kam es nicht an. Es war die Kategorie, in der Kunden beim Suchen die meiste Unordnung schafften, und sie sortierte gerade neu.

Ein Stück hinter ihr standen eine Kollegin und zwei Männer, die sich auf Dari unterhielten. Unauffällig drehte sie den Kopf. Sie sahen aus, als seien sie aus dem Iran. Die Sätze klangen ähnlich wie das Paschtu, das Vater noch manchmal mit ihr sprach. Dialekte. Wie Deutsch und Österreichisch, dachte sie.

Die Blicke ihrer Kollegin verrieten völlige Hilflosigkeit, obwohl die beiden Kunden auch versuchten, ihre Wünsche in Englisch zu äußern.

Sie ging hin und übersetzte. Ihr war rasch klar, was die zwei wollten. Sie übernahm das Gespräch, beriet sie und verkaufte ihnen mehrere teure Bildbände als Geschenk für zuhause. Dieser Erfolg hatte den Charakter eines Ritterschlags.

Ab diesem Moment wurde sie offensiver. Nicht, dass sie sich aufdrängte. Aber wenn sich Kunden in einsame Ecken der Buchhandlung verirrten, wo sie gerade ihrem Job nachging, bot sie ihre Hilfe an. Die Begeisterung ihrer Kolleginnen hielt sich in Grenzen, doch es verbot ihr auch niemand.

Einmal kam ein Mann ins Geschäft und ging direkt an die Kasse, hinter der die Inhaberin stand. Er wolle sich nur bedanken. Die drei Bücher, die ihm vor zwei Tagen empfohlen worden waren, seien exakt das, was er gesucht hatte. 

»Wer hat Sie denn beraten?«, fragte sie erfreut.

»Den Namen kenne ich natürlich nicht. Aber es war die junge Frau mit …«, er räusperte sich, »… die mit dem Kopftuch.«

Aziza besuchte ein Wirtschaftsgymnasium und kannte sich mit Marketing aus. Und sie hatte das Gespräch mitbekommen. Das also ist mein Alleinstellungsmerkmal, ging ihr durch den Kopf. Immerhin besser, als wenn man sich gar nicht an mich erinnert. Aber gut fand sie das nicht.

Ihr nächster Arbeitstag war in der Woche darauf. Sie hatte das ganze Wochenende darüber gegrübelt und war noch immer nicht zu einer endgültigen Entscheidung vorgedrungen.

Sie begann mit ihren Routinearbeiten, es waren auch keine Kunden da. Aber selbst für die einfachsten Handgriffe fehlte ihr die nötige Konzentration. Eine innere Stimme sagte: So geht das nicht weiter und für den Fortgang der Welt hat das, was an dir nagt, keinerlei Bedeutung.

 Also gab sie sich einen Ruck, ging in den Personalraum und stellte sich vor den Spiegel über dem Waschbecken. Langsam entwirrte sie den Stoff, dann zog sie das Kopftuch herunter. Kurz überkam sie eine Welle von Erregung, die aber sofort wieder abklang. Du hast ein Ziel, sagte sie sich. Verliere dich nicht in Gefühlen.

Sie klopfte bei der Chefin. »Die Tür ist offen«, tönte es von innen.

Aziza trat ein und ging nach vorne zum Schreibtisch. Die Leiterin der Buchhandlung war offensichtlich echt überrascht. »Was ist denn mit dir los?«, sagte sie und schaute mit einer Mischung aus Überraschung und Gefallen auf Azizas gelockte Mähne, die sich über ihre Schultern ergoss.

»Ich möchte mehr mit Kunden arbeiten«, sagte Aziza. »Ich höre seit Wochen am Rande die Kundengespräche und ich weiß, ich kann das auch. Und nicht nur mit Leuten aus meiner Heimat.«

»Dafür musst du nicht unbedingt das Kopftuch weglassen. Dir ist schon klar, dass das eine Entscheidung ist, die weit über deine Arbeit hier in der Buchhandlung hinausgeht?«

Aziza nickte und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Ja, das ist mir klar. Aber egal, für was ich mich entscheide, mit beiden Möglichkeiten bin ich im Zweifel. Und die hier«, dabei deutete sie auf ihre schwarze Mähne, »kenne ich noch nicht. Wenn ich nach der Arbeit hier rausgehe, ziehe ich es sowieso wieder an.«

Die Chefin schaute sie eine Weile an und überlegte. »Du bist wirklich mutig. Und du bist in der Tat nicht jemand, der nur Regale einräumen sollte.« Sie schwieg erneut einen Augenblick und fuhr dann fort. »Wir probieren das. Du machst zunächst weiter wie bisher. Und wenn es draußen eng wird, kommst du dazu. Und dann sehen wir, wie sich das entwickelt.«

Aziza nickte. »Danke. Das ist wunderbar. Wunderbar, dass Sie mir das zutrauen. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Das anfängliche Empfinden einer Blöße wich schneller, als sie erwartet hatte. Sie fühlte sich ernster genommen. Wenn sie bediente, mochten die Kunden sie. Das gab ihr ein völlig neues, gutes Gefühl. Sie zeigte eine ernsthafte Hingabe, das zu finden, was diese zu suchen meinten, soweit sie nicht direkt nach bestimmten Titeln fragten. Wenn sie nicht weiter wusste, holte sie eine ihrer Kolleginnen.

Es war ein gewöhnlicher Tag. Das Glöckchen an der Eingangstür zur Buchhandlung ertönte. Aziza dachte sich nichts dabei. Das passierte täglich hunderte Male. Sie füllte Regale im hinteren Bereich mit Neuerscheinungen auf, die frühmorgens der Lieferdienst des Buchgroßhändlers gebracht hatte. Die Kochbücher sahen auch so aus, als müssten sie neu sortiert werden. Alphabetisch war klar. Aber nach Autoren? Nach Titeln? Oder vielleicht nach Ländern? Aziza grübelte, als eine ihrer Kolleginnen auftauchte.

»Kannst du mir helfen. Ich habe da wieder einen Hamdullah. Der kann zwar Deutsch, aber bei der Beschreibung, was er sucht, blicke ich nicht durch. Geht wohl um ein Geburtstagsgeschenk für seine Tochter.«

Aziza legte die drei Bücher wieder auf die Kiste, schob die widerspenstigen Haare hinter die Ohren und benetzte ihre Lippen. »Bin schon unterwegs.«

Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr und schaute sich die Bände in den Aufstellern an. Er trug westliche Kleidung, außer einer kurzen Kurta, einem für Afghanen typischen Hemd, das an ihm aussah wie ein weites, über der Hose getragenes Shirt. 

Sie sprach ihn auf Paschtu an und registrierte, dass er zusammenzuckte. Dann drehte er sich um. Er öffnete den Mund, aber sagte keinen Ton. Aziza überkam ein Gefühl vollständiger Lähmung. Er schaute sie an. Von oben nach unten und von unten zurück nach oben. Dort blieb sein Blick auf ihren unbedeckten Haaren hängen. Er drehte sich wortlos um und wollte gehen.

»Vater!«

Er blieb stehen und wendete den Kopf. »Was machst du hier? Wie siehst du aus?«

»Vater«, ihre Stimme klang verzweifelt, »es ist nur für hier, und …«, sie stockte, »niemand hat das von mir verlangt. Es war meine Entscheidung.«

»Und warum dann die unbedeckten Haare?«

»Komm mit. Nicht hier!« Sie packte ihn am Arm und zog ihn nach hinten in die Nähe des Personalraums, wo sie niemand sah.

»Versuche doch zu verstehen. Wir werden hier nie mehr weggehen. Jedenfalls nicht nach Afghanistan. Und ich will sein wie alle hier und nicht immer nur das Kopftuchmädchen.«

Der Vater schluckte. »Und warum arbeitest du hier, wo du dich nicht aufdringlichen Blicken von Männern entziehen kannst?«

Aziza gewann ihre Sicherheit langsam zurück. »Vater, wir sind hier nicht auf dem Bau. Das ist eine Buchhandlung. Hier gibt es Dinge, die mich glücklich machen und mit denen ich mich gerne umgebe. Außerdem verdiene ich Geld!«

»Wofür musst du Geld verdienen?«

»Auch ich brauche manchmal Geld. Und ich will dich nicht immer bitten müssen.« Sie zögerte einen Moment. »Im Gegenteil, ich denke, es wird Zeit, dass auch ich meinen Anteil in die Familienkasse gebe.«

Einen Moment schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte. »Die Familie zu ernähren, ist Männersache«, kam dann in wenig überzeugendem Ton.

»Du weißt selbst, dass das nicht stimmt. Ich arbeite gerne hier, und wenn ich dafür Geld bekomme, ist es selbstverständlich, davon einen Teil abzugeben, so wie meine Brüder. Ich fühle mich gut, wenn ich das kann – Mutter wäre jedenfalls stolz auf mich.« Sie erschrak. Diese letzten Worte hätte sie besser für sich behalten.

Ihr Vater schaute sie an und sie bemerkte, dass seine Augen feucht wurden.

»Gib mir dein Kopftuch.« Das kam mehr als Aufforderung denn als Bitte. Sie zögerte. Er wiederholte den Satz und sie wollte ihn nicht noch mehr enttäuschen. Also ging sie an ihren Spind, holte das Kopftuch und reichte es ihm.

Er nahm es, faltete es und steckte es ein.

»Was machst du? Was soll das?«

»Ich möchte es als Erinnerung. Als Erinnerung an mein Kind, das kein Kind mehr ist. Du bist 18 Jahre alt. Du bist erwachsen und entscheidest selbst.« Er schluckte. »Ich habe deine Mutter verloren. Dich will ich nicht verlieren. Ich liebe dich – mit und ohne Kopftuch.«

Er drückte sie an sich und sie spürte, wie eine Träne in ihr Haar fiel und und sich den Weg auf ihren Kopf suchte.

Bild von Mollyroselee auf Pixabay

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Der Anfang: Ein Exposé taucht auf

Eines Tages im Herbst 2019 stand ich auf dem Dachboden und wühlte in einer Archivkiste nach alten Unterlagen. Mit dem ungeöffneten Karton war ich bereits mehrere Male umgezogen, und ich hatte nur noch vage Vorstellungen über den Inhalt. Das Gefühl, auf einer Schatzsuche zu sein, kennt wohl jeder: Die Goldstücke, die man zu finden hofft, gibt es nicht. Dafür tauchen Dinge auf, die einem komplett aus dem Gedächtnis gefallen sind und die man nie mehr vermisst hätte, selbst wenn das Haus abgebrannt wäre.

So auch hier. Jede Menge altes Papier: Ausgaben der twen und des Spiegel, Autozeitschriften aus den 60ern in Hochglanz, dazwischen Briefe mit 20 Pfennig Marken, Gratulationen zur Konfirmation und Hotelprospekte. Aber dann kam ein Stapel Film-Exposés zum Vorschein, und der saugte mich schlagartig zurück in die 80er Jahre.

Damals arbeitete ich in München für eine Filmproduktion, die im Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen vor allem Dokumentationen, Features und Porträts von mehr oder weniger bekannten Kulturschaffenden drehte. Die Produktionsfirma gehörte dem leider viel zu früh gestorbenen Filmemacher Christian Bauer, der ursprünglich Gymnasiallehrer für Englisch war und unter anderem Amerikanistik studiert hatte. Dieses Faible für Land, Leute, Sprache und Kultur der USA prägte auch sein filmisches Schaffen. Mein Platz als Produktionsleiter war eigentlich der Schreibtisch in München. Aber wie so oft beim Film und gerade bei kleineren Firmen arbeitet man auch auf Nebengleisen, und ich ergriff jede sich bietende Gelegenheit, bei Dreharbeiten in den USA dabei zu sein.

Wir drehten so ziemlich überall in den Staaten. An der Ostküste, der Westküste, den kompletten Mississippi runter von Minnesota bis in den Golf von Mexiko. Aber eine Stadt holte uns immer wieder ein: Chicago. Das hatte zwei Gründe. Zum einen war eines der ersten großen Projekte ein 90 Minuten Porträt dieser Stadt. Dabei haben wir die „Windy City“ nicht nur intensiv kennen und lieben gelernt, sondern Ideen für eine ganze Reihe von weiteren Filmen gefunden: den Chicago-Blues, die Schlachthöfe in Upton Sinclairs legendärem Buch Der Dschungel, Al Capone und so manches mehr.

Der zweite Grund hieß Allen. Der war ein genialer Kameramann und ein formidabler Kenner seiner Heimatstadt Chicago. Mit einer Empfehlung des Film Centers am Art Institute of Chicago stellte er sich Christian Bauer vor. Allen verstand sofort, welche Form der Bildsprache von ihm gewünscht wurde und entwickelte sich bereits im Lauf des ersten Projekts zu einem unersetzlichen Teil der Crew. Er blieb das viele Jahre lang.

Allen lebte mit seiner Freundin in South Chicago an der Halsted Street in einem Loft mit gigantischen Ausmaßen. Hier fand alles statt, was Allens Leben und das seiner Partnerin definierte. Hier wurde gewohnt, aber vor allem gearbeitet. Hier war Studio, Schneideraum, Kino und Konferenzsaal, Kantine und Lager.

Allen arbeitete als Kameramann, war aber selbst Filmkünstler. Große Teile seiner Gage wanderten in eigene Projekte, die so gut wie nie irgendwelchen kommerziellen Aspekten folgten. Diese Wohn- und Arbeitsstätte hätte er sich nicht leisten können, wäre nicht das Gebäude zum Abriss freigegeben gewesen. Der verzögerte sich immer wieder, aber irgendwann würde es so weit sein.

Bemerkenswert, weil unübersehbar, war Allens Auto, ein 64er Chevrolet Bel Air. Dieses Fahrzeug flößte schon von außen Furcht ein. Es war verbeult mit großen grau gespachtelten Flächen. Der Lack zeigte sich in einem mäandernden stumpfen Blaugrau, und das Ausstellfenster auf der Beifahrerseite war mit Gaffertape abgeklebt, weil es bei einem versuchten Einbruch abhandengekommen war. Spätestens im Inneren des Wagens kam einem der Gedanke, hier sein Leben aufs Spiel zu setzen. Die Sitze zerschlissen und durchhängend, jede Feder war einzeln im Rücken zu spüren. Die Lenkradschaltung ausgelutscht mit einem Hebel, der im parkinsonschen Endstadium zitterte. Am beängstigenden war aber der Dachhimmel, der sich in großflächigen Fetzen gelöst hatte und den Passagieren teilweise direkt vor den Augen hing. Dieses Gefährt nutzten wir als Produktionsfahrzeug für diverse Filme in Chicago.

Allen war oft ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Andererseits konnte er extrem witzig und unterhaltend sein, wobei er nicht unbedingt erkennen ließ, welche Geschichten er gerade erfand oder was wirklich den Tatsachen entsprach. Bis heute ist nicht geklärt, ob er dieses Auto von seinem Großvater geerbt oder für 100 Dollar an einer Straßenecke erstanden hatte.

Warum ich das alles erzähle? Nun, weil das der reale Bestandteil des einzigen Exposés mit einer ansonsten erfundenen Geschichte ist. Alle anderen in der Kiste wiedergefundenen Exposés behandelten dokumentarische Themen.

Ich saß zwischen all diesen staubigen Kisten und las, wie sich Steve, Kameramann aus Chicago, nach einem Streit mit seiner Freundin Linda spontan in Richtung Süden aufmacht. Dort will er den alten von seinem Opa geerbten Chevy Bel Air in der Nähe eben dieses Großvaters beerdigen. Auf der Fahrt nach South Carolina passieren alle möglichen Dinge. Steve trifft die merkwürdigsten Leute und – logisch – auch eine Frau, die vieles noch komplizierter macht.

Das Exposé hatte einen Umfang von 22 computergeschriebenen Seiten, und mein Rechner datierte es auf 1990. Es war also knapp 30 Jahre alt. Trotzdem erinnerte ich mich in diesem Moment nicht an den Plot. Klar, die Anleihen bei Allen und seiner persönlichen Situation waren sofort erkennbar und eindeutig. Außerdem endete die Geschichte in Murrells Inlet, South Carolina, wo wir ebenfalls im Jahr 1990 ein Porträt von Mickey Spillane gedreht hatten – dem großen amerikanischen Krimi-Autor und Erfinder von „Mike Hammer“.

Tage nach dem Dachbodenfund kam mir die Vermutung, dass das Ganze eine schnell heruntergeschriebene Rohfassung war. Es fehlten Übergänge, ein paar Szenen waren mit dem Vermerk „Ausarbeiten!“ versehen. Wahrscheinlich hatte ich den Text als Übung oder aus Spaß an der Freude geschrieben. Irgendwann verschwand das Exposé bzw. die Rohfassung davon erst in einem Stapel unerledigter Dinge und dann in der Archivkiste, wo sich ein Mantel des Vergessens darüberlegte.

Erfreulicherweise endete es nicht im Papierkorb! Denn dieser Fund setzte etwas in Bewegung. 30 vergangene Jahre lassen eine Distanz entstehen, die den Blick auf das Wesentliche schärft, und sie erhöhen deutlich die Objektivität gegenüber dem eigenen damaligen Schaffen. Die Geschichte zeigte Qualitäten, und die Frage nach der Aktualität stellt sich nicht, wenn Personen und Abläufe in dem gegebenen zeitlichen Umfeld stimmig herüberkommen.

In dem Exposé gab es Szenen und Abschnitte, die nicht überzeugten. Sie waren trivial oder brachten die Geschichte keinen Meter voran. Aber der Plot hatte einen Spannungsbogen. Er transportierte Witziges, Nachdenkliches und Emotionen, und die Entwicklung der Geschehnisse hatte eine geschlossene Logik. Mich frustrieren Bücher, in denen der Schluss mit der Brechstange des Zufalls und des Unglaublichen passend geschrieben wurde.

Und so wanderte das Exposé wieder vom Dachboden in einen Stapel Papier auf meinem Schreibtisch.

Auf der Titelseite des Exposés war ein Foto des Chevys zu sehen, des Wagens, der eine „tragende“ Rolle in der Geschichte spielt. Die Kiste zog mich jedes Mal in Bann, wenn ich auf dem Schreibtisch – meistens suchend – unterwegs war. Ich ertappte mich häufig, ein paar Seiten erneut zu lesen, und irgendwann fing ich an, Notizen an den Rand der Blätter zu schreiben. Es dauerte nicht mehr lang, bis ich die erste Szene in einer ausführlichen Fassung neu anlegte. Ohne dass es mir bewusst wurde, hatte ich damit den Anfang eines Buchprojekts gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings noch weit entfernt von der Entscheidung, ein Buch schreiben zu wollen.

Das Ausformulieren von Szenen machte mir Freude, den Figuren Wörter und Sätze in den Mund legen zu können genauso. Aber das alles war mehr ein Vortasten, ein Ausprobieren, um zu sehen, ob das Geschriebene auch noch Tage später meine Zustimmung finden würde.

Der letzte Satz verrät eine meiner Vorgehensweisen: Ich drucke Texte auf Papier aus, um Korrekturen, Ergänzungen und Anmerkungen zwischen die Zeilen, an den Rand und gerne auch auf die Rückseite des Blatts schreiben zu können.

Irgendwann war es so weit. Zwei Kapitel hatte ich in einer ersten neuen Rohfassung geschrieben, und sie erfüllten meinen eigenen Anspruch. Der nächste entscheidende Punkt kam, als ich beschloss auszuprobieren, ob ich ein ganzes Buch stemmen könnte. Das habe ich wohlweislich für mich behalten, weil ich ein potenzielles Scheitern nicht ausschloss und dieses lieber mit mir allein ausmachen wollte. Ich sah das Ganze als ein persönliches Experiment.

So wurde aus einem Jahrzehnte alten Exposé auf meinem Schreibtisch das Projekt für einen Roman. In Analogie zu „Ruhe in Frieden“ nannte ich den Arbeitstitel Ruhe im Süden. Ich hatte keinen Druck und dementsprechend keinen Zeitplan. Trotzdem wollte ich das alles ab sofort kontinuierlich wachsen sehen. Schreiben war angesagt!

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