Kontinuität in der Erzählung
Gehen wir vom Allgemeinen zum Speziellen. Ein Thema ist mir durchgängig begegnet, und das heißt auch so: Continuity. Der Begriff kommt aus der Filmsprache und wird dort nicht als Kontinuität, sondern als „Anschluss“ bezeichnet. Das klingt in Verbindung mit Büchern ungewohnt, hat aber in einem Roman dieselbe Bedeutung.
Spätere oder „anschließende“ Szenen müssen von Stimmung, Kostümen und Ausstattung zu den vorherigen passen. Eine Figur kann keinen Rucksack aufsetzen, den sie nicht irgendwann mitgenommen oder gekauft hat. Das scheint selbstverständlich, wird aber möglicherweise zu einem Problem, wenn der Autor nicht in der zeitlichen Abfolge bzw. linear schreibt.
Weil es das wiedergefundene Exposé als Grundgerüst gab, habe ich oft Szenen ausgelassen, denen ich mich mit besonderer Aufmerksamkeit und in Ruhe widmen wollte. Als ich mich dem Ende des Buchs näherte, gab es also eine Reihe von Lücken im geschriebenen Text. Beim Füllen dieser Zwischenräume ploppte häufig die Frage auf, ob bestimmte Accessoires oder Eigenschaften bereits eingeführt waren oder hier neu dazukamen. Glücklicherweise hilft da die Keyword-Suchfunktion, mit der sich schnell feststellen lässt, ob und in welchem Zusammenhang solche Details schon etabliert worden waren.
Schwieriger wird es bei grundlegenden Strukturen der Geschichte: Wenn der Protagonist kurzsichtig ist, warum trägt er keine Brille? Ist er eitel? Hat er Kontaktlinsen? Wenn ja, wozu wird die Sehschwäche überhaupt erwähnt? Wenn dieser Umstand Auslöser für Geschehnisse ist, die im weiteren Ablauf wichtig sind, sollte der Leser das wissen. Die Gründe könnten zum Beispiel in einem Dialog zur Sprache gebracht werden.
Aus den Reihen der Testleser kam die Frage, warum Steve als Kameramann weder eine Kamera dabei hat, noch einen einfachen Fotoapparat kauft, um die Aktion mit dem Begräbnis des Chevy zu dokumentieren (zur Erinnerung: Wir haben das Jahr 1988, und da gab es noch keine Telefone, die Bilder machen). Nun, als er sich spontan auf die Reise begab, hatte er nichts mit sich außer seinem Rucksack. Alles Nötige besorgte er sich unterwegs. Abgesehen davon, dass für einen Filmemacher ein Fotoapparat kein Ersatz für eine Filmkamera ist, war ihm klar, dass diese schräge Aktion seine komplette Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde. Dabei hätte er keine Zeit und keinen Nerv, zu fotografieren.
Ein gutes Beispiel für den „Anschluss“ oder logische Kontinuität ist der Arm, den Steve sich bei einem Sturz bricht. Ohne dieses Missgeschick hätte die weitere Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Besser gesagt, es wäre erst gar keine richtige Geschichte geworden. Der aus dem Sturz folgende Gipsarm bedingt aber eine Reihe von Konsequenzen. Er muss immer am gleichen Arm sein, und zwar dem linken, damit Steve später mit der Lenkradschaltung des Chevy zurechtkommt und die Rückseite der Visitenkarten beschreiben kann. Aber der Gips behindert auch. Steve kann nicht so ohne weiteres duschen – wodurch ich seiner Begleiterin Beth ein bisschen Spaß ins Manuskript schreiben konnte –, aber er kann auch nicht mal eben in den Ärmel seines Hemds schlupfen.
Wer weiß wann was? Manchmal müssen Protagonisten über bestimmte Kenntnisse verfügen, damit sie im Sinn der Geschichte agieren können (manchmal dürfen sie das auch genau nicht). Gegen Ende des Buchs ruft Paul, Freund und Arbeitgeber von Steve in Chicago, bei Beth an. Dieses Gespräch ist wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte. Aber woher hat Paul ihre Telefonnummer? Das kann nicht aus dem Ungefähren kommen. Steve hatte sie ihm am Tag zuvor gegeben, weil Paul ihn wegen eines Jobs auf dem Laufenden halten wollte.
Die Notwendigkeit solcher kleinen, aber wesentlichen Einschübe in Handlung oder Dialog ist für die schlüssige Logik einer Geschichte unerlässlich. Es ist kein Problem, sie nachträglich einzubauen. Man darf es nur nicht vergessen.
Zurück zu den Lücken in meinem Manuskript. Ich hatte mittlerweile diverse Stellen gefüllt, wo Übergänge, Szenen oder ganze Teile der Erzählung fehlten. Jede erforderte ein erneutes Eindenken in die Situation. Das ist zeitraubend, weil man immer mehrere Seiten davor und mehrere Seiten danach lesen muss, um ein Gefühl für die Stimmung zu bekommen. Außerdem wird dabei offensichtlich, dass das bereits Geschriebene in Details tatsächlich Unterschiede in sich trägt. Die resultieren aus der Laune und Stimmung, die der Autor beim Schreiben hatte. Und da muss man sich erst wieder reinfinden. Es ist besser, solche Lücken von vorne herein zu vermeiden oder zumindest so früh wie möglich zu schließen.
Es gab aber nicht nur Lücken, sondern auch Doubletten. Ich war ein paar Tage bei einem Familientreffen. Dort schrieb ich weiter, ohne zu wissen, wie weit ich in den Tagen vorher gekommen war. Wieder zuhause stellte ich fest, dass ich eine Szene doppelt geschrieben hatte, mit einem Zeitversatz von fünf Tagen. Das ist keine Katastrophe, sondern – im Gegenteil – ausgesprochen interessant, weil beide Versionen funktionierten, obwohl sie starke Unterschiede aufwiesen.
In der Konsequenz heißt das: Gegebenenfalls kann man eine Szene drei- oder mehrmals schreiben – an verschiedenen Tagen, an verschiedenen Orten, jeweils mit ausreichend zeitlichem und örtlichem Abstand. Es ist in jedem Fall spannend, zu sehen, was sich wo zu der Szene entwickelt. Vielleicht kann man diese Strategie gezielt bei Szenen anwenden, deren Darstellung nicht zufriedenstellend ist. Man schreibt sie, ohne die erste Version anzusehen, so oft, bis man sie als gut genug empfindet.
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